Über die Hand (aus GEO 7/97)

Die Hand - Geniestreich der Evolution von Henning Engeln

Ein Artikel aus GEO, Nr.7/ Juli 1997


 

Die Hand - Geniestreich der Evolution

von Henning Engeln

 


Der Mann war süchtig, 15 Jahre lang. In fast ganz Europa fahndete

er nach den Objekten seiner Leidenschaft. Dabei galt die Obsession von

Norbert Nemetz weder schönen Frauen noch verschollenen Schätzen,

sondern einem gewöhnlichen menschlichen Körperteil: der Hand.

Und im Lauf der Jahre brachte der passionierte Sammler aus Wolnzach bei

München rund 800 Objekte zusammen, die einen wesentlichen Bezug zur

menschlichen Hand haben.

"Es begann mit einem Bild, das 1980 zum Pressefoto des Jahres gekürt

wurde" , erinnert sich Nemetz. "Es zeigt die winzige abgemagerte Hand eines

hungernden Kindes in Uganda in der großen Hand eines weißen

Uno-Helfers, und es hat mich so berührt, daß ich alles zu sammeln

begann, was mit der Hand zusammenhing."

In der Tat galt die Passion des Wolnzacher Elektromeisters einem höchst

erstaunlichen Gegenstand. Denn die Hand ist keine bloße "Extremität"

des Menschen, sondern ein derart sensibles Sinnesorgan, daß Blinde

damit selbst den Wert eines Geldscheines ertasten können. Sie hat

die Konstruktion von Werkzeugen vom Faustkeil bis zum Computer ermöglicht,

sendet Signale in Form von - bewußten und unbewußten - Gesten

und wird für eine Gebärdensprache genutzt, die der gesprochenen

in nichts nachsteht. Die Hand vermittelt dem Graphologen Einblick in die

Persönlichkeit, sie wird von frommen Menschen als Reliquie verehrt.

Ihr Abbild ist allgegenwärtig in der Werbung, findet sich wieder auf

Briefmarken, Schmuck und Kunstwerken.

Die Hand ist tragendes Element vieler Rekorde: Ein Brite schleppte einen

vier Kilogramm schweren Ziegelstein auf seinen Händen 99,4 Kilometer

weit. Ein Österreicher lief auf seinen Händen in 55 Tagen die

1400 Kilometer von Wien nach Paris. Ein anderer Österreicher zog mit

einem Finger einen 13-Tonnen-Lkw inklusive sechs Paletten Bier und zwei

Fahrern in zehn Sekunden drei Meter weit.

Die simpelste Form, mit der dieses "Werkzeug des Geistes" - wie der

Philosoph Immanuel Kant es formulierte in die Welt eingreifen kann, ist,

einen Gegenstand aufzunehmen und ihn an eine andere Stelle zu setzen. Aber

welch eine grandiose Leistung selbst eine solche einfache Handlung darstellt,

wird deutlich, wenn man sie einer Roboterhand abfordert.

"Wir sind noch meilenweit von dem entfernt, was die menschliche Hand

kann", meint Friedrich Pfeiffer von der Technischen Universität München.

Er hat mit seinem Team eine vierfingerige Hand konstruiert, die mittels

Hydraulik zugreift und so beispielsweise ein Ei aufnimmt.

Doch damit sie das zu leisten vermag, muß die Bewegung der einzelnen

Finger entsprechend der Größe und Form des Eies vorher programmiert

werden. Denn um einen Gegenstand "von selbst" zu ertasten, brauchte die

Roboterhand Sensoren wie die menschliche, deren Fingerkuppen mit mehreren

tausend Tastkörperchen pro Quadratzentimeter ausgestattet sind.

Mit gehörigem Aufwand sei es technisch wahrscheinlich möglich,

eine von der Mechanik her ziemlich perfekte Hand zu konstruieren, glaubt

Pfeiffer. Ebenbürtig wäre sie dem biologischen Vorbild jedoch

noch lange nicht. "Die Hauptprobleme liegen in der Sensorik und in der

intelligenten Steuerung."

Robotern fehlt eben das Hirn. Erst durch die neuronale Verarbeitung

der sensorischen Informationen und deren Koordination mit der Bewegungsmotorik

wird die Hand zur Hand. Hinzu kommt die neuronale Vernetzung mit dem Auge,

dessen Informationen das Greiforgan bei seinen Bewegungen leitet. Dieser

komplexe Prozeß ist das Ergebnis einer jahrmillionenalten Koevolution

zwischen dem Gehirn und dem Werkzeug Hand.

Keiner der zahlreichen bislang konstruierten Robotergreifer (siehe auch

GEO Nr. 11/1991) kann erfühlen, ob die Oberfläche eines Gegenstandes

rauh oder glatt, warm oder kalt, hart oder weich ist. Und keiner kann ein

Objekt so schnell, präzise und zugleich feinfühlig durch den

Raum jonglieren wie die menschliche Hand. Selbst ein simples Glas Wasser

aufzunehmen und zu bewegen ist deshalb für eine künstliche Hand

noch immer eine Herausforderung.

Mediziner am Physiologischen Institut der Universität Kiel haben

im Rahmen einer Untersuchung Erwachsenen und Kindern verschiedener Altersstufen

beim Greifen auf die Finger geschaut. Sowohl den aufzunehmenden Gegenstand

als auch mehrere Stellen an Fingern und Handrücken hatten die Physiologen

durch aufgeklebte Punkte markiert, deren Bewegung dann eine Infrarotkamera

registrierte. Ein Computer wertete die Daten aus und schrieb sie als Bewegungsfolgen

auf den Bildschirm: einen abstrahierten Strichmännchenarm, der sich

zum Gegenstand hin streckte, wo sich die Strichmännchenfinger öffneten,

um das Objekt zu packen.

Ergebnis: Der Bewegungsablauf differenziert sich in eine Zielbewegungskomponente

- zum Gegenstand hin - und die eigentliche Greifbewegung, die beide vom

Gehirn unabhängig voneinander gesteuert werden. Erste Auswertungen

ergaben, daß die Kinder insgesamt langsamer als die Erwachsenen sind

und daß die "Qualität" ihrer Griffe von Versuch zu Versuch stärker

variierte. Offenbar ist der Bewegungsablauf bei Erwachsenen routinierter,

eingeschliffener.

Ähnliche Versuche mit hirngeschädigten Personen sollen weitere

Aufschlüsse darüber geben, wie die grauen Zellen die Greifbewegung

steuern. Hilfreich könnten dabei die Ergebnisse von Experimenten an

Katzen sein, deren Pfotenbewegungen mit Röntgenstrahlen analysiert

wurden.

"Im Röntgenbild ähnelt die Katzenhand erstaunlich der menschlichen",

erklärt Michael Illert, Leiter des Projekts." Auch Katzen können

ihre fünf Finger unabhängig voneinander bewegen."

Den Tieren wurde beigebracht, mit der Pfote ein Stück Wurst aus

einer erhöht vor ihnen liegenden Öffnung herauszufischen. Bei

Verletzung der sogenannten Pyramidenbahn - einer Gruppe von Nervensträngen,

die für willkürliche Bewegungen zuständig ist - gelang es

den Katzen zwar, noch völlig normal mit der Pfote zur Öffnung

zu langen, nicht mehr jedoch, das Futter richtig herauszuziehen, auf der

Pfote umzudrehen und ins Maul zu befördern. Auch das ist ein Hinweis

darauf, daß die Bewegungskomponenten unabhängig voneinander

gesteuert werden.

20 bis 30 Tage nach der Nervenverletzung kehrte bei den Katzen das normale

Greifverhalten zurück, hatten offenbar andere Nervenfasern deren Funktion

übernommen. Dank solcher Erkenntnisse hoffen die Physiologen, menschlichen

Patienten, deren Handmotorik durch Gehimblutungen oder -tumore geschädigt

ist, besser helfen zu können.

"Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von Handbewegungen",

erläutert Illert. "Solche, die durch ständige Rückkoppelung

gesteuert werden, zum Beispiel das Schreiben. Sie ermöglichen vorsichtige,

filigrane Bewegungen. Und dann gibt es die ballistischen Bewegungen, bei

denen ein Bewegungsprogramm abgerufen wird und sehr schnell abläuft.

Es ist dann aber nicht mehr modifizierbar und nicht hundertprozentig genau."

Mittels solcher Bewegung fängt der Mensch einen Ball oder teilt einen

Kinnhaken aus, und die Katze erbeutet damit einen Vogel. Doch 100 bis 200

Millisekunden vergehen, bis sich das Bewegungsprogramm in der Großhirnrinde

formiert, an die Muskeln gelangt und sie aktiviert. Deshalb schickt die

Katze erst einmal die Pfote dorthin, wo sie den Vogel etwa 200 Millisekunden

später erwartet. Für letzte Korrekturen dieses evolutionär

entstandenen und durch tägliche Übung perfektionierten Programmablaufs

verfügt die Katze sogar über eine hyperschnelle direkte Nervenverbindung

zwischen Pfote und Auge.

Doch die motorische Steuerung ist nur ein Aspekt der Handbewegung. "Die

Hand ist auch ein wichtiges Sinnesorgan", betont Illert. "Sie ,sieht' im

Dunkeln und um die Ecke herum. Neben der Zunge haben die Finger im Gehirn

die größten sensorischen Repräsentationsareale." Diese

Hirnregionen verarbeiten jene Informationen, die die Hand erfühlt:

Mindestens vier Typen der vielen tausend Tastkörperchen sowie Zehntausende

freier Nervenenden an Fingerspitzen und Handflächen senden ihre "Sicht"

der Welt ans Hirn und machen sie "begreifbar". In diesem erfühlten

Universum können sogar Blinde Bälle fangen oder in zuvor durch

Tasten inspizierter Umgebung Fahrrad fahren.

Die Wiederherstellung dieser sensorischen Fähigkeiten ist unter

anderem Ziel bei der Behandlung von verletzten oder fehlgebildeten Händen.

"Das Wesentliche an der Hand ist das Gefühl, und deshalb ist die unvollkommen

chirurgisch rekonstruierte Hand noch immer besser als die beste Prothese",

sagt Anna-Maria Selzer, Oberärztin am Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus

Boberg in Hamburg. Dort, an der größten Handchirurgischen Abteilung

Deutschlands, operieren Spezialisten täglich durch Unfälle verletzte

und verstümmelte, an Sehnen, Muskeln, Nerven oder Knochen erkrankte

oder durch angeborene Fehlbildungen beeinträchtigte Hände.

Verletzte etwa, deren Nerven dort durchtrennt sind, wo der Handteller

in die Finger übergeht, können ihre Hand normal bewegen, denn

die Finger werden über Sehnen gestreckt und gekrümmt. Die Finger

selbst haben keine Muskeln und daher nur sensible Nervenfasern. Dennoch

können solche Patienten ihre Hände schlecht gebrauchen, weil

Fein- und Tastgefühl fehlen. Wer im Winter einmal eine Schneeballschlacht

ohne Handschuhe gemacht hat und dann mit tauben, steifen Fingern in seine

warme Wohnung zurückgekehrt ist, weiß, wovon die Rede ist.

Zum Glück haben einige Nerven die Fähigkeit, sich nach einer

Durchtrennung zu regenerieren: Nach mikrochirurgischer Naht der Nervenhülle,

zum Beispiel an Hand und Unterarm, wachsen die einzelnen Nervenfasern mit

einer Geschwindigkeit von einem Millimeter pro Tag. Die meisten der in

der Hülle gebündelten Fasern finden und verbinden sich wieder:

Gefühl und Motorik kehren im Laufe von Monaten und Jahren großenteils

zurück.

Dank der Kunst der Handchirurgen und dieser erstaunlichen Regenerationsfähigkeit

können Betroffene oft auch nach erheblichen Handverletzungen wieder

ordentlich greifen. Und selbst wo Finger völlig fehlen - bei angeborenen

Fehlbildungen oder nach Unfällen -, besteht Hoffnung: In diesen Fällen

transplantieren die Mediziner Zehen an die Hand, verbinden dort Knochen,

Sehnen und Nerven miteinander und schaffen eine zwar unvollkommene, aber

doch funktionierende Hand. Zwei opponierbare also wie der Daumen und ein

Finger gegeneinander zu stellende - Glieder reichen für den sogenannten

Präzisionsgriff aus. Und der ist eine der wichtigsten Bewegungen der

menschlichen Hand.

Die Geschichte des opponierbaren Daumens begann vor rund 60 Millionen

Jahren mit den ersten Primaten. Das Grundmuster unserer "Vorderextremität"

hat allerdings einen viel früheren Ursprung: Ein quastenflossiger

Fisch mit fünfstrahliger Vorderflosse - ein Verwandter des heutigen

Lungenfisches - schickte sich vor mehr als 350 Millionen Jahren an, das

Land zu erobern. Er wurde zum Urahn der Amphibien, Reptilien, Vögel

und Säugetiere. Noch immer tragen daher viele der heutigen Wirbeltiere

fünf Zehen, die sich beim Menschen zum hochspezialisierten Greiforgan

ausgeformt haben.

Wer je im Zoo den Schimpansen, Orang-Utans oder Gorillas intensiver

zugeschaut hat, wird beeindruckt sein, wie sehr das Verhalten dieser Menschenaffen

an Homo sapiens erinnert. Das gilt besonders für den Einsatz der Hände

- wenn die Affen beispielsweise eine Banane verzehren, sich am Fell kratzen,

zärtlich die Hand des Partners ergreifen oder einen Gegenstand untersuchen.

Die Menschenaffenhand zeigt ein der unseren durchaus ebenbürtiges

Geschick selbst was die Feinmotorik betrifft.

Holger Preuschoft und seine Mitarbeiterin Marianne Christel von der

Abteilung Funktionelle Morphologie am Institut für Anatomie der Universität

Bochum haben das in einem Experiment nachgewiesen. Sie streuten Trockenfutter

aus - Gries, Hafer, Hirse- oder Weizenkörner - und beobachteten wie

Schimpansen und Menschen es mit den Fingern auflasen. Preuschoft: "Abgesehen

davon, daß Schimpansen beim Aufsammeln kleiner Gegenstände die

Spitze des Daumens in die Beuge des Zeigefingers legen, statt wie Menschen

die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zum Präzisionsgriff zusammenzubringen,

gab es keine signifikanten Unterschiede."

Auch was die Ausstattung der Hände mit Sinneszellen betrifft, sieht

Preuschoft kaum Differenzen. "Was der Mensch mit seiner Hand darüber

hinaus leisten kann, hat nichts mit der Anatomie der Hand, sondern einzig

mit dem Gehirn zu tun."

Der Schlüssel zum Verständnis der "Handwerdung" bei Affen

und Menschen liegt für den Bochumer Morphologen in der Anpassung unserer

Vorfahren an das Leben auf Bäumen. Um auf den Ästen Halt zu finden,

mußten die Ur-Primaten eine Pfote ausbilden, die nicht nur Druckkräfte

beim Laufen am Boden auffangen konnte. Sie mußte vielmehr auch die

Finger einhaken können, um Äste zu umfassen und an ihnen entlang

zu hangeln. Außerdem hatte sie Reibungskräfte und Drehmoment

zu übertragen, damit das Tier gegen Wegrutschen und -drehen auf dem

Ast gefeit war.

So entwickelte sich bei den äffischen Ahnen im Lauf der Evolution

eine Extremität mit langen, einzeln beweglichen Fingern. Gegen das

Rutschen half ein spezielles "Reifenprofil" - jenes System aus Fingerleisten,

das einem jeden von uns heute den unverwechselbaren Fingerabdruck beschert

und das die Reibung um rund 20 Prozent erhöht. Außerdem "erfanden"

die frühen Baumbewohner ein spezielles "Haftmittel" , mit dem Finger

noch besser halten : den Hand- und Fußschweiß. Dieses System

wird immer dann besonders angekurbelt, wenn es für die Primaten brenzlig

wird und sie sich in den Baumkronen davonmachen müssen.

Schweißfüße und feuchte Hände bei Erregung und

Stress sind somit nichts anderes als uralte, reflexartige Vorbereitungen

des Körpers auf Leistungen wie Flucht, Jagd oder Kampf. Mit der Körperkühlung

hat der Schweiß an Fußsohle und Innenhand wenig zu tun: Niemals

bekommen wir im Schlaf feuchte Hände, auch wenn uns sonst noch so

heiß ist. Umgekehrt dauert es morgens eine Weile, bis die "Schmierung"

der Hand in Gang kommt - weshalb manche Affen nach dem Erwachen zunächst

besonders vorsichtig klettern.

Für die Lebensweise der ursprünglichen Primaten auf den Bäumen

war es vorteilhaft, kräftige Hinterbeine zum Springen von Ast zu Ast

zu entwickeln, so daß sich das Körpergewicht - im Gegensatz

zu den meisten anderen Säugetieren überwiegend auf die hinteren

Extremitäten verlagerte.

Damit entwickelte sich das aufrechte Sitzen zu ihrer bevorzugten Ruhestellung

- und die Hände wurden frei für neue Aufgaben. Beispielsweise

als Hilfsmittel beim Futtern oder Trinken.

Wo andere Tiere mit ihrem langen Hals problemlos hingelangen, hätten

die kurzhalsigen Affen ihren Körper in Bewegung setzen müssen.

Dank der Hand konnten sie jedoch energiesparend sitzen bleiben und sich

alle Nahrung in Reichweite des Armes abpflücken. Ein weiterer Vorteil:

Die Nahrung läßt sich mit der Hand prüfen, bevor sie in

den Mund befördert wird. Und ein versehentlich mit Blättern oder

Früchten aufgenommener Skorpion ist in der Hand weniger gefährlich

als im Rachen.

So ist die Anatomie der Hand bereits von unseren äffischen Vorfahren

auf die evolutionäre Spitze getrieben worden. Dann aber begannen vor

rund zweieinhalb Millionen Jahren Menschenvorfahren, primitive Werkzeuge

zu fertigen und zu nutzen. Herstellung und Gebrauch von Werkzeugen erforderten

eine ungleich komplexere Steuerung durch das Hirn. Wahrscheinlich löste

daher der Umgang etwa mit Faustkeilen einen enormen Entwicklungsschub des

Gehirns aus.

Erst diese evolutionäre wechselwirkung von Hand und Hirn machte

die Kombination zu einem Instrument, das die Welt veränderte. Unsere

Vorderextremität gewann damit eine Bedeutung, die weit über die

Funktion als reines Greif- und Manipulationsorgan hinausgeht.

Davon zeugen auch zahllose Redewendungen: die Trümpfe in der Hand

haben, einem das Handwerk legen, blutige Hände haben, die Hand ins

Feuer legen, die Hände ringen, zwei linke Hände haben, jemandem

zur Hand gehen unzählige solcher sprichwörtlichen Konstrukte

lassen sich zusammentragen.

Die Hände können sogar die Funktion der gesprochenen Sprache

komplett übernehmen, wie die Gebärdensprache der Taubstummen

belegt. Aber auch wer sich akustisch artikuliert, teilt mit Gesten zusätzliche,

wichtige Dinge mit. Psychologen sprechen da von nonverbaler Kommunikation,

von Körpersprache.

"Wir unterscheiden die sprachbegleitende Gestik, die sprachunabhängige

Gestik und sogenannte Embleme", erläutert Harald Wallbott vom Institut

für Psychologie der Universität Salzburg. "Embleme, das sind

Handbewegungen mit ganz bestimmter Bedeutung, die praktisch als Ersatz

für Sprache verwendet werden." Beispiele dafür sind der berüchtigte

"Vogel", mit dem mancher sein Gegenüber als geistig nicht zurechnungsfähig

erklären möchte, oder der nicht minder berühmte "Stinkefinger".

Eine simple Geste kann dem gesprochenen Wort sogar überlegen sein.

Die Aufforderung, "Versuchen Sie mal eine Wendeltreppe zu beschreiben!",

ist eines von Wallbotts schlagenden Beispielen. Und tatsächlich nimmt

sein Gegenüber unwillkürlich die Hand zu Hilfe und macht eine

eindeutige Geste, während er stammelt: "Das ist eine Treppe, die im

Kreis, nach oben, sich windet, äh..."

Im Alltag ist die Gestik oft sprachbegleitend. Vermutlich gibt es zwischen

Sprache und der Gestik enge Zusammenhänge im Gehirn. Versuchspersonen,

die daran gehindert wurden, ihre Hände beim Reden zu bewegen, sprachen

weniger differenziert und weniger flüssig, hatten Formulierungs-probleme,

und sogar die Sprachinhalte wurden beeinflußt.

Umgekehrt helfen Gesten, die Worte eines Redners verständlicher

zu machen, insbesondere, wenn das Publikum so weit entfernt ist, daß

es die Gesichtsmimik kaum mehr wahrnimmt. Deshalb auch gestikulieren Theaterschauspieler

intensiver als Filmschauspieler. Adolf Hitler nahm in den zwanziger Jahren

Unterricht bei dem Schauspieler Basil, der am Königlichen Hoftheater

in München heroische Rollen spielte. Von ihm soll der nachmalige "Führer"

gelernt haben, die Hände bei öffentlichen Auftritten publikumswirksam

einzusetzen und seine Zuhörer statt mit Argumenten mit Gesten und

Körpersprache für sich einzunehmen.

Mitunter jedoch verrät die Gestik oder ihr Mangel auch, ob jemand

lügt. So zeigte ein Forscher einer Gruppe von Leuten einen "schönen"

Film, über dessen Vorzüge die Probanden hinterher schwärmen

sollten. Eine zweite Gruppe bekam einen Film mit abstoßendem Inhalt

zu sehen, sollte ihn aber trotzdem als schön empfunden loben. Die

,,Lügner'' entlarvten sich durch eine auffallend reduzierte sprachbegleitende

Gestik.

Und manchmal kommt es vor, daß es einem die Sprache verschlägt,

daß einem die richtigen Worte einfach nicht einfallen. Wenn man sich

dann am Kopf kratzt, so ist das womöglich eine unbewußte Art

der Stimulierung des Gehirns oder eine Übersprungshandlung aus Verlegenheit.

Solche sprachunabhängigen Bewegungen der Hände - dazu gehören

auch das Trommeln mit den Fingern auf dem Tisch, das Händereiben und

dergleichen verraten vieles über den inneren Zustand, über Erregung

oder Nervosität eines Menschen. Zusammen mit anderen nonverbalen Signalen

des Körpers sind sie Grundlage der sozialen Kommunikation.

Als unbewußtes Sprachwerkzeug teilen die Hände nach den Erkenntnissen

von Fachleuten für nonverbale Kommunikation beispielsweise mit, ob

jemand vertrauensselig und friedlich gestimmt sei (die offene Hand wird

gezeigt) oder er sich unsicher und bedroht fühle (die Hand wird zugedeckt

oder sucht Halt). Die geballte Faust drücke aggressive Entschlossenheit

aus, die nach rückwärts gezogenen Arme ein passives Gewährenlassen.

Wenig allerdings offenbart die Psychologie des Gestikulierens darüber,

wie das Gehirn die Hand steuert, wie es Bewegungen organisiert und kontrolliert.

In diesem Zusammenspiel aber muß die Antwort auf die Frage zu finden

sein: Was macht die menschliche Hand so einmalig in der Welt des Lebendigen?

Erste Hinweise auf den Einfluß der grauen Zellen auf die Motorik

gaben Experimente Wilder Penfields in den dreißiger Jahren. Der kanadische

Neurologe hatte die Hirnrinde von Epilepsie-Patienten elektrisch stimuliert

und festgestellt, daß bei der Reizung eines bestimmten Hirnareals

ein Körperteil zu zucken begann. 1950 publizierten Penfield und ein

Kollege den Nachweis, daß die sensorischen Fähigkeiten der Hand

in der Großhirnrinde mehr Areal als jedes andere Organ beanspruchen.

In jener Zeit stellten sich Wissenschaftler die Bewegungssteuerung ähnlich

der einer Marionette vor: Von einem eng umgrenzten Fleck auf der Großhirnrinde

gingen Impulse an den zugehörigen Körperteil und bewegten ihn

wie ein Faden, der entweder an Arm, Hand oder Bein der Marionette zieht.

Inzwischen sind die Forscher von der starren Zuordnung bestimmter Hirnareale

zu bestimmten Körperteilen abgerückt. Vielmehr sehen sie die

motorische Repräsentation eines Körperteils als ein komplexes,

über die Hirnrinde verstreutes Mosaik an - vergleichbar mit der Speicherung

einer digitalen Datei, die in vielen, an unterschiedlichen Stellen abgelegten

Häppchen auf einer Festplatte oder Diskette erfolgt.

Hinzu kommt, daß die Zuordnung jener Gebiete im Gehirn nicht starr

ist, sondern sich durch Ge-brauch und Nichtgebrauch ändert auch hier

paßt das Bild von der digitalen Datei, die bearbeitet und dadurch

in ihrer Größe verändert wird. Das konnte beispielsweise

ein spanisches Physiologenteam bei Versuchen mit Probanden belegen, die

die Braille-Blindenschrift erlernten. Es stellte sich heraus, daß

sich jenes Gehirnareal, das für die Sensomotorik der Fingerbewegungen

zuständig war, während der ersten sechs Monate jeweils einige

Stunden nach dem Üben drastisch vergrößerte. Am nächsten

Tag war es wieder normal. Nach einem halben Jahr jedoch blieb das Hirngebiet,

das für den Zeigefinger zuständig ist, permanent größer,

das für die angrenzenden Finger hingegen schrumpfte etwas.

Wie feinfühlig Motorik und Sensorik bei der Steuerung der Hand

zusammenarbeiten, zeigen auch Experimente einer Forschergruppe aus Kanada.

Versuchspersonen mußten Zylinder unterschied-lichen Gewichts und

unterschiedlicher Textur mit dem "Präzisionsgriff" von Daumen und

Zeigefinger hochheben. Gemessen wurde dabei die Kraft, mit der die Finger

zupackten. Es stellte sich heraus, daß die Fingerkraft sowohl vom

Gewicht des Zylinders abhängt als auch von dessen Oberfläche:

Je schwerer der Gegenstand und je schlüpfriger die Oberfläche,

desto stärker der Griff.

Dabei berücksichtigt das Gehirn auch Erfahrungswerte, denn bei

neuerlichem Ergreifen eines bereits bekannten Gegenstandes wird die Kraft

von vornherein auf das erwartete Gewicht und die Textur des Gegenstandes

zugeschnitten. Zudem erhält das Hirn unablässig sensorische Informationen

über Gewicht und Oberflächenbeschaffenheit - sowohl von den Fingern

als auch über das Auge und paßt den Druck der Finger über

diese Rückkoppelung innerhalb von Millisekunden an sich verändernde

Kräfte und Gewichte an.

Trotz Erforschung solcher Details ist die Wissenschaft noch weit davon

entfernt, die Hand wirklich zu begreifen. So resümiert denn der Kieler

Physiologe Illert: "Zwar sind die Prinzipien der Muskel-steuerung bei einfachen

Greifbewegungen weitgehend klar. Doch die Motorik in Verbindung mit der

Sensorik ist noch nicht verstanden. Und auch - das eigentlich Interessante

wie die Hand in einen Verhaltenskontext gebracht wird, zum Beispiel beim

Gestikulieren im Gespräch, ist physiologisch noch völlig ungeklärt."

Für den Hände-Freund Norbert Nemetz indes ist das kein Manko,

sondern ein Grund mehr, in der Hand etwas Besonderes, Rätselhaftes,

Faszinierendes zu sehen. Und deshalb hat er der Hand inzwischen zu einem

eigenen Museum verholfen. Der Bürgermeister seiner Heimatstadt hatte

den Elektromeister gedrängt, seine Sammlung der Öffentlichkeit

zugänglich zu machen. Und so wurde im Mai 1996 in Wolnzach das Museum

"Kulturgeschichte der Hand" eröffnet, das die 200 interessan-testen

Gegenstände der Sammlung darunter Original-Lithographien und Drucke

von Picasso und Dali - zeigt und weltweit nicht seinesgleichen hat.

Sein Wandel zum Museumsdirektor hat Nemetz zwar von dem Zwang befreit,

ständig neue Objekte suchen zu müssen. Dennoch meint er am Ende

des Rundgangs durch sein Hand-Werk mit dem leicht gequälten Blick

des Perfektionisten: "Man kann der Hand in einem Museum einfach nicht gerecht

werden. Sie ist zu komplex." Da würden die Kollegen aus der Wissenschaft

nicht widersprechen.

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
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Veröffentlicht am
21.06.2004
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